Das bin ICH
Wenn man sie zum ersten Mal sieht, scheint sie wie jede andere sorglose Person, der man begegnen könnte. Aber was dahinter steckt, ist ziemlich beeindruckend, vor allem, wenn es so locker erzählt wird. Ursprünglich kommt Silvia aus Managua, Nicaragua, und wohnte dann größtenteils in den USA. Jetzt sitzt sie in einem Café in Wuppertal, Deutschland.
Sie erinnert sich daran, wie sie in der USA angekommen ist. Im Alter von vier Jahren wurde sie mit Hilfe von Schleppern, Coyotes auf Englisch, zusammen mit ihren zwei älteren Geschwistern, ein Bruder und eine Schwester, und ihrem Vater über die mexikanische Grenze geschmuggelt. Zum Glück war ihre Mutter schon in Miami, Florida, zu Besuch bei den Großeltern. Aber wieso mussten sie überhaupt flüchten?
Damals gab es einen Bürgerkrieg in Nicaragua. Jungen zwischen zwölf und sechzehn Jahren wurden gezwungen, in der Armee zu dienen. Silvias Bruder war genau in diesem Alter und konnte zu den Waffen gerufen werden. Aufgrund der schwierigen Situation im Land war aber nicht nur sein Leben in Gefahr, sondern das der ganzen Familie. Ihr Vater, für die Regierung als PR-Mann tätig, verstand den Ernst der Situation erst, als die Mutter weg war und die Haushaltshilfe nur wenige Lebensmittel für die Familie auftreiben konnte, weil es in den Geschäften kaum noch etwas zu kaufen gab. Dann wurde es ihm klar: Sie mussten auch weg!
Als Silvias Großeltern in Rente gingen, zogen sie nach Miami um, da auch andere Verwandten dort wohnten. Miami war also ein sicheres Ziel. Die Fahrt nach Miami erfolgte aber nicht direkt: Zuerst mussten sie Mexiko erreichen und dann zusammen mit den Coyotes einen Fluss bei Nacht und Nebel überqueren, wobei Hubschrauber mit Suchscheinwerfer nach illegalen Immigranten suchten. Sie mussten ab und zu im Wasser des Flusses untertauchen, damit die Polizei sie nicht entdeckte. Aber stellt euch das vor: Wie soll man mit einer Vierjährigen mehr als ein paar Sekunden unter Wasser bleiben? Als alle unter Wasser gingen, musste der Coyote, der Silvia auf den Schultern hatte, so untertauchen, dass die kleine Silvia noch atmen konnte. Und so gingen sie über den Fluss, mit dem Wasser, das ihnen bis zur Nase reichte.
Angekommen in den USA war ihre erste amerikanische Mahlzeit etwas sehr Traditionelles – würden wir sagen: ein HappyMeal bei McDonalds. Danach flog die Familie von Texas nach Miami, wobei sie kein Visum mehr brauchten, weil man damals nur mit dem Ausweis innerhalb der USA reisen konnte. An dieser Stelle beginnen auch Silvias eigene Erinnerungen: mit der Taxifahrt zu ihrer Mutter.
Mehr als zwölf Jahre lang wurden die Familienmitglieder als illegale Einwanderer betrachtet, weil sie keine echten Urkunden hatten, die bestätigten, dass sie in den USA wohnen durften. Deshalb mussten die Eltern immer neue Arbeitsvisa besorgen. Um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen mussten sie schließlich, laut eines neuen Gesetzes, beweisen, dass sie zehn Jahre in den USA gelebt haben. Zum Glück fand Silvia sich in Miami schnell zurecht – auch dank ihres Alters. Die Sprache lernte sie einfach im Kindergarten, zusammen mit den anderen Kindern.
Später begann Silvia in der Hauptstadt Florida einen Film-Studiengang. Danach wechselte sie zu International Business (IB) auf der FIU. Die FIU (Florida International University) war die siebtbeste Uni für IB, und sie entschloss sich, nebenbei auch Buchhaltung zu studieren, weil sie damit immer eine sichere Arbeitsstelle finden konnte. Während ihrer Studentenzeit war sie sehr engagiert in dem Studentenvorstand eines studentischen Vereins und absolvierte vier Praktika in verschiedenen angesehenen Unternehmen, eines davon bei Ernst & Young, wo sie noch heute arbeitet. Sie war auf der Suche nach Chancen, um etwas von der Welt zu sehen.
Warum war ihre Karriere ihr so wichtig? Sie sah sich immer als reisende, berufstätige Frau – vielleicht ein Einfluss von ihrer Mutter, oder auch von ihrem Vater: Beide hatten eine unternehmerische Denkweise und haben eigene Betriebe aus dem Nichts aufgebaut.
Als die Familie in den USA kam, hatte sie fast nichts. Sie mussten sich von ganz unten hocharbeiten. Der Vater begann erst als Bauarbeiter zu arbeiten, die Mutter in einem Blumenladen. Aufgrund ihrer Führungsqualitäten eröffnete die Mutter schließlich ein Reisebüro, zudem ein nicaraguanisches Restaurant. Der Vater hatte eine Leidenschaft für IT und mochte Computer, daher wurde er Lehrer und eröffnete ein Computergeschäft. Er träumte davon, eine Schule zu gründen – was er später auch tat. Er hatte nicht nur Erfolg mit seiner Schule, sondern ab und zu auch Pech. Aber er gab seinen Traum nie auf, und am Ende hat alles gut geklappt.
Direkt nach dem Studium begann Silvia schließlich bei Ernest & Young. Während ihrer Arbeit hatte sie aufgrund ihrer Spanischkenntnisse viel Gelegenheit, als Junior-Beraterin nach Lateinamerika zu reisen.
Mit zwanzig Jahren ging sie eine langfristige Beziehung ein, die sieben Jahre dauerte. Sie wollten heiraten, aber knapp einen Monat vor der Hochzeit sagte Silvia die Feier ab. Sie hatte aufgehört, ihren zukünftigen Mann zu lieben und fühlte sich nicht auf eine Ehe vorbereitet. „So sollte man in einer Ehe nicht denken, oder?“, dachte sie und beendete die Beziehung.
Obwohl das eine der schwierigsten Entscheidungen ihres Lebens war, war es auch die Beste, weil sie auf sich selbst angewiesen sein wollte. Nach diesem Beschluss fand sie sich in einem Hotel mit einem überschwänglichen Gefühl von Freiheit wieder. Es begann eine neue Phase in ihrem Leben, wobei sie quasi ein Sabbatjahr einlegte und sich viel mit Yoga und ähnlichen Tätigkeiten beschäftigte, während sie beruflich in Lateinamerika unterwegs war.
2012 bekam sie die Chance nach Amsterdam zu wechseln. Als sie sich im Oktober 2012 auf einen Aufenthalt in Mexico vorbereitete, wurde sie von ihren Freundinnen angerufen, damit sie zu einem Treffen kommt, bei dem auch ein hübscher Deutscher anwesend war. Spontan entschloss sie sich, dorthin zu gehen, hatte einen schönen Abend und sollte anschließend nach Mexico fliegen. Später erfuhr sie, was er über das Treffen gesagt hatte: „Ich hab meine Traumfrau getroffen!“ Doch Silvia wollte zu diesem Zeitpunkt bewusst keinen Freund haben, hatte Spaß und blieb nicht lange an einem Ort. Sie verabschiedeten sich – aber nur für eine kurze Weile. Silvia sollte ja bald nach Europa umziehen und da wollten sie sich wieder treffen.
Ende Februar zog sie nach Amsterdam um und der Deutsche begann, sie jedes Wochenende zu besuchen. Es dauerte nicht lange, bis sie nach Deutschland kam, wo sie ihren ersten großen Kultur-Schock bekam. Den größten kulturellen Unterschied fand sie an Weihnachten: Während man sich in Nicaragua zwischen fröhlichen Menschen und lauter Musik befand, war es hier leise, es herrschte eine ruhige Stimmung, aber es gefiel ihr trotzdem. Die deutsche Weihnachtstimmung fand sie genauso gemütlich wie ihr Weihnachten zu Hause.
Im Jahr 2013, neun Monaten später, verlobten sie sich, weil Liebe keine Zeit, Distanz oder Grenzen kennt. Als sie zu Weihnachten in Nicarague bei ihrer Familie zu Besuch waren, entschieden sie sich spontan für eine spirituelle Hochzeit. Sie tauschten ihre Schwüre auf einer Hochzeit aus, die die Mutter und die Schwester in nur zehn Tagen vorbereitet hatte. Natürlich war auch die Familie ihres Mannes Jonas dabei, die extra dafür einflogen. 2015 heirateten sie dann noch einmal in Deutschland.
Aber wie ist Silvia, eine Großstadtpflanze, nach Wuppertal gekommen? Das lässt sich leicht erklären: Die Eltern des Freunds leben in Solingen und er arbeitete in Wuppertal. Sie war nicht von Anfang an 100 Prozent von Wuppertal überzeugt, besonders, als sie noch in Düsseldorf arbeitete. Aber als sie zusammen eine wunderbare Altbauwohnung fanden, wurde sie von dem Wuppertaler Charme eingenommen.
Auch der Blick auf ihre Arbeit änderte sich, nachdem sie 2015 hier als Risikoanalystin für Ernest & Young arbeitete. Während in den USA die Arbeit an erster Stelle steht, ist das hier nicht so, man schätzt in Deutschland das private Leben mehr und betrachtet es als wichtiger. Wäre sie noch in Miami, könnte sie sich nicht vorstellen, einfach ein Bier am Mittwochabend in Köln in einem Park mit Freunden zu genießen.
Im Januar 2016 bekam sie schließlich ein Baby: Andreas spielt jetzt eine große Rolle in ihrem Leben, er hat es völlig geändert hat. „Wenn der Student bereit ist, kommt auch der Lehrer“, sagt Silvia und glaubt, dass dieser Satz ganz gut auf sie passt. Sie lernt jeden Tag von ihrem Kind als Mutter präsent zu sein und bewusst zu leben.
Auch karrieretechnisch fühlt sie sich schon geändert, nun kann sie die Einflüsse ihrer Eltern spüren und hat Lust, auch selbstständig zu werden.
Sie kommt unter der Dusche auf die Idee, dort, wo eben alle guten Ideen entstehen. Sie möchte ihre Leidenschaften mischen: Während ihrer zahlreichen Reisen durch Lateinamerika hatte sie die Gelegenheit, viele Flohmärkte zu besuchen, die größtenteils aus vielen Kunsthandwerken bestanden.
Also hatte sie die Idee für einen Blog mit Kindermöbeln aus der ganzen Welt, handgemachten Artikeln, Spielzeugen, alles Unikate von lokalen Künstler. Total begeistert von ihrer neuen Idee bekam sie Unterstützung von ihrem Mann. Nun ist sie fast fertig mit der Webseite www.up-up-baby.com. Das Blogprinzip basiert auf dem Simplicity Parenting-Ansatz, den sie auch mit ihrem Sohn umzusetzen versucht. Sie arbeitet an ihr Nebenprojekt in ihrer Freizeit, aktuell ist es nur ein Blog, vielleicht später mit der Perspektive, daraus einen kleinen Online-Shop zu eröffnen, wo sie mit einer kleineren Kollektion beginnen möchte – mit Artikeln aus Nicaragua.
Mittlerweile ist sie also sehr beschäftigt, sie arbeitet bei Ernst &Young, ist Vollzeit-Mutter und hat ihr eigenes Projekt. Wie eine Wonder-Woman könnte man sagen. Um mit der ganzen Arbeit gut umzugehen, hat sie sich auch ein Au-Pair-Mädchen aus Nicaragua zum Helfen geholt. Natürlich vermisst sie es, Spanisch zu sprechen, aber mit dem Kleinen hat sie die Möglichkeit, es wieder zu sprechen. So hat sie nach einer langen Reise zumindest für diesen Moment ihre Reisetaschen beiseite gestellt und im Briller Viertel ein Zuhause gefunden.