Olga
Das bin ICH
Eine Basis, um den Blick zu wechseln
Der Grund für den Zuzug war klar, die Entscheidung bewusst: Olga sah in Deutschland Perspektiven. Nach ihrem Studium siedelte die Wirtschaftswissenschaftlerin nach Wuppertal um – weil sie es schon kannte und weil sich hier gerade berufliche Chancen boten. Aber auch weil ihre Heimat nicht gerade dazu angetan war, sie zu halten: Olga stammt aus Weißrussland, der einstigen Sowjetrepublik, die oft als „letzte Diktatur Europas“ bezeichnet wird.
Erstmals ins Tal gekommen war Olga als Studentin für einen Auslandsaufenthalt. Gerade eine deutsche Uni dafür war kein Zufall, denn die Sprache sprach sie längst – Deutsch wird an weißrussischen Schulen viel gelehrt und gilt dort nach ihren Worten mehr als Französisch. Sie lernte Stadt und Land kennen und schätzen, und als nach dem Abschluss die berufliche Orientierung anstand, beschloss sie, auf Dauer herzuziehen. Das renommierte Wuppertal Institut spielte ebenfalls eine Rolle, und heute arbeitet Olga bei einem großen IT-Unternehmen. Inzwischen hat sie auch geheiratet – einen Franzosen, den sie hier kennen lernte; das Paar mit zwei Kindern lebt in Düsseldorf.
Weißrussland muss seine jungen Absolventen generell nicht gerade zum Bleiben verlocken: Olga erzählt von viel Armut, auch wenn die Planwirtschaft des Landes besonders durch enge Beziehungen zu Russland als relativ stabil gilt. Daneben ist es das Regime, das nicht nur Olga auf Distanz gehen lässt: Präsident Aljaksandr Lukaschenka ist seit 1994 ununterbrochen im Amt und führt das Land autoritär. Die Straßen in den Städten, sagt sie, sind voll mit Propaganda-Plakaten. Ist Lukaschenka ein Despot? Die Frage beantwortet Olga mit einer Bemerkung ihres Mannes zu einem französischen Comic auf Nicolas Sarkozy: „In Weißrussland wäre so etwas gar nicht erst veröffentlicht worden.“
Der Bezug zu Frankreich wie auch Deutschland, neben dem zu Weißrussland und der benachbarten Ukraine: Er ist prägend für Olga und ihre Familie. Wichtig ist ihr, dass die Kinder dreisprachig aufwachsen. Und sich in mehreren Sprachen wie Kulturen überhaupt auszukennen, scheint ihr eine Ausgangsbasis, die nicht nur im Beruf von Vorteil ist.
Der Hintergrund hilft Olga oft, den Blick zu wechseln. „Europäische Werte“ sind ja ein oft gehörtes Schlagwort, aber wohl auch durch diese Außensicht „ad hoc“ hat sie keine Schwierigkeiten, es zu konkretisieren: „Individuelle Freiheit“, das sei zentral für Europa, trotz aller aktuellen Gefährdungen. Als Beispiel verweist sie auf das Thema Homosexualität und die repressive Haltung Russlands dazu im Vergleich – und der russische Einfluss sei in Weißrussland weiter stark, wenn auch Lukaschenka sich neuerdings in Distanz versuche. Den Begriff „Liberalität“ für den europäischen Geist lässt sie zwar gelten, aber nicht ohne Zweifel am Kapitalismus US-amerikanischer Prägung, den das Wort für sie mit transportiert.
Wach und differenziert wirkt dieser Wechsel-Blick – übrigens auch auf Deutschland, von dem Olga heute verschiedene Regionen kennt: Wuppertal wie auch das Ruhrgebiet sind ihr angenehm, zum Süddeutschen zieht es sie weniger. Und die Hauptstadt? Ihr Urteil dazu mag überraschen, viele Osteuropäer teilen es, sagt sie und meint es gar nicht sehr begeistert: „Berlin ist für viele ziemlich osteuropäisch.“
Text: Martin Hagemeyer