Gabriel
Das bin ICH
Der Sprung ins Ungewisse kann ein Anfang einer großartigen Geschichte sein. Gabriel Valrey Bihina, der früh wusste, dass er in seinem Leben Geschichten erzählen will, hat das unwirklich verinnerlicht, als er nach seinem Abitur ein Zugticket von Wuppertal nach Berlin kauft. Ohne Rückfahrkarte. Gerade einmal 150 Euro in der Tasche. Sein verwegener Plan: Filmemacher werden. Ein USB-Stick mit selbstgedrehten Filmen soll sein Startkapital sein.
Keine Rückfahrkarte. Das ist nicht unbedingt ein freiwilliges Lebensmotto für Gabriel. 1991, als er in Kamerun geboren wurde, ist davon jedenfalls noch nichts zu ahnen: Gabriels Familie gehört zu den Privilegierten im Land. Die Mutter arbeitet in hoher Position im Finanzministerium. Gabriel geht auf eine gute Schule. Leistungsdenken und Tradition sind angesagt. Jedes Jahr werden die Kinder in Gabriels Klasse in einem Ranking bewertet. Von Platz 1 bis 25. „Unter den Top 10 zu sein ist eine Frage der Ehre. Kein Mädchen vor sich zu haben sowieso“, sagt man ihm. Gabriel kommt damit klar. Er ist ein guter Schüler.
Europa war eigentlich kein Plan für Gabriels Familie. Doch als sein Vater früh stirbt und seine Mutter schwer krank wird, sind die Zukunftsaussichten in Afrika schlecht. Die Mutter fährt zur Kur nach Deutschland; ursprünglich nur für ein halbes Jahr. Kurz vor dem geplanten Rückflug nach Kamerun, spricht sie ein Mann in einem Zug an: „Ich muss Dich unbedingt kennenlernen.“ Gabriels Mutter verliebt sich in ihn und bleibt in Deutschland. Wuppertal, der Herkunftsort ihres neuen Mannes, soll jetzt auch ihre Heimat werden.
13 Jahre alt ist Gabriel, als er der Mutter nach Deutschland folgen soll. Bis dahin war er noch nie außerhalb seines Heimatlandes. Es ist ein Aufbruch für immer. Noch nicht einmal für eine Urlaubsreise hat Gabriel Kamerun seitdem besucht.
Kein Wort Deutsch. Alle Freunde in der Heimat. Fremd in einem grauen Land. Als Gabriel in Deutschland ankommt, bettelt er seine Mutter an, wieder zurück nach Kamerun zu dürfen. Doch in seiner Familie gilt das Wort des Älteren. Wuppertal steht nicht zur Diskussion. „Sei froh, dass Du mit 13 Jahren noch so einfach nach Deutschland kommst. Dein älterer Bruder in Kamerun hat da weniger Glück“, sagt seine Mutter.
Die Ausländerbehörde schaut Gabriels Zeugnis aus Kamerun an. Die Sache scheint schnell klar: Entwicklungsland, keine deutschen Sprachkenntnisse, unverständliche Noten, das bedeutet: „Hauptschule. Förderklasse.“ Für die nächsten Jahre hat Gabriel jetzt seinen Stempel weg. Es folgen harte Zeiten im Schulhof der Hauptschule Rott. Die Jugendlichen wollen stark sein. Schwache werden gnadenlos gemoppt. Erst recht, wenn die Gesellschaft, sie hier alle als schwach bezeichnet. Aussehen, Körperlichkeit, Geruch, Hautfarbe: Jedes vermeintliche Manko, ist auf dem Schulhof ein gefundenes Fressen.
Gabriel ist Schwarz.
Das kriegt er jetzt täglich zu hören. Nur nicht der Schwächste sein, sagt er sich immer wieder und beißt sich durch. Irgendwie beginnen sie ihn zu mögen: Mitschüler, aber auch Erwachsene. Eine Lehrerin entdeckt sein künstlerisches Talent. In der Weihnachtszeit darf er vor der Klasse seine selbstgeschriebenen Geschichten vorlesen.
Zeitsprung nach vorne: Berlin, eine faszinierende Stadt. Groß und unberechenbar. Gabriel spürt, dass ein neues Leben zum Greifen nah liegt, als der ICE aus Wuppertal im gläsernen Hauptbahnhof einrollt. Doch die ersten Tage sind ernüchternd: „Wie du hast uns noch gar keine Bewerbung geschickt?“, fragt man erstaunt, als Gabriel mit einem Stadtplan durch Berlin zieht, und Werbeagentur für Werbeagentur abklappert. Er ist guten Mutes, dass man einem kreativen Kopf wie ihm schon eine Chance geben wird. Er möchte ja nur ein Praktikum. „Dann lass uns Deine Unterlagen da, wir melden uns“, sagen diejenigen, denen seine Direktheit imponiert. „Ich muss aber meinen USB-Stick wieder mitnehmen, den habe ich nur einmal“, sagt Gabriel.
Irgendwann hat er die letzte Adresse auf seiner Liste erreicht. „Sorry, so kurzfristig haben wir nichts.“ Diese Antwort kennt Gabriel nun bereits. Soll das Berlin-Abenteuer etwa nach ein paar Tagen schon wieder beendet sein? Die Geldvorräte gehen zur Neige. Da entdeckt Gabriel eine zweite Tür in dem Bürogebäude, in dem er sich gerade befindet. Irgendwo sieht er das magische Wort „Film“ auf einem Türschild. Gabriel hat nichts mehr zu verlieren. Er klingelt. Die Besitzer der kleinen Agentur öffnen ihm persönlich: „Wie cool, es mit der Bewerbung einfach mal so zu versuchen“, sagen sie ihm. „Eigentlich haben wir nichts für Dich. Aber komm mal in zwei Tagen wieder.“
Der Film, als unvermittelter Türöffner zu neuen Welten. Das ist für Gabriel eine Erfahrung, die er aus Wuppertal kennt. In der neunten Klasse macht er ein Praktikum beim Medienprojekt. Seitdem lässt ihn das Filmemachen nicht mehr los. Schnitt, Ton, Drehbuch, Musik. Alle Grundlagen des Filmens lernt Gabriel hier. Er bleibt dem Projekt lange über sein Praktikum hinaus erhalten. Immer wieder lädt er seinen gesamten Freundeskreis zu den Filmpremieren im Cinemaxx ein.
Doch das Filmen ist für Gabriel noch viel mehr. Es ermutigt ihn, sich Ziele zu stecken. Er spürt plötzlich, dass er mehr aus seinem Leben in Deutschland machen kann als andere. Mehr als seine eigene Mutter, die, hohe Finanzbeamtin in Kamerun hin oder her, inzwischen ihr Geld als Putzfrau verdienen muss. Er schafft den Sprung auf die Gesamtschule und will unbedingt sein Abitur schaffen. Weiß, was er sich erlauben kann, und was nicht. 150 unentschuldigte Fehlstunden zeigen sein Zeugnis einmal an. In Mathe ist eine 5+ schon ein Erfolg. Doch am Ende besteht er die Prüfungen. Der Abi-Schnitt ist phänomenal schlecht. Gabriel aber weiß: Als Filmregisseur braucht man keine guten Noten.
Mit diesem trotzigen Blick auf die Zukunft schlägt sich Gabriel schließlich auch in Berlin wacker durchs Leben. Das Praktikum in der Filmagentur gibt einen Vorgeschmack auf die Welt, von der Gabriel in Wuppertal immer geträumt hat. Zwar sind die Aufgaben trocken und das Geld reicht kaum, um die Miete zu bezahlen. Doch lernt er jetzt Menschen kennen, die ihn inspirieren. Alles ist neu, groß, aufregend und bunt. Gabriel saugt seine neue Umgebung wie eine Droge in sich auf: All diese unkonventionellen Lebensentwürfe, den Puls der Zeit, die rauschenden Partys, den nie enden wollenden Fluss von Kreativität und purer Lebensfreude. Er nimmt mit, was er kriegen kann. Lässt sich mitreißen, wo es nur geht. 20 Stunden Party am Stück sind keine Seltenheit.
Aber wollte er nicht immer viel mehr aus seinem Leben machen, als eine große Party? Immerhin kennt er irgendwann die passenden Leute und stellt die Crew für einen Film zusammen: Kamera, Maske, Ton, Postproduktion. Auf eine Anzeige, melden sich dazu 150 Schauspieler, die umsonst bei ihm mitspielen wollen: Die Filmbranche ist brutal umkämpft. Ein 30-Minuten Endzeit-Drama entsteht. Alles soll den höchsten Ansprüchen genügen. Bald soll es richtig losgehen: Voller Vertrauen in sein Talent, bewirbt sich Gabriel bei allen großen deutschen Filmhochschulen.
Doch überall wird er abgelehnt.
So viel Energie für den Film und doch keine Perspektive? Gabriel ist jetzt bald Mitte 20. Er spricht mit Regisseuren, die 10 Jahre älter sind als er. Auch sie haben den Traum vom großen Filmruhm noch nicht begraben. Auch wenn sie den Sprung auf die Filmhochschule bis heute nicht geschafft haben. Soll das etwa auch sein Schicksal werden?
Gabriel bewirbt sich für eine Ausbildung bei einer Werbeagentur. Jung von Matt. Eine der renommiertesten Agenturen Deutschlands. Und der Chef führt die Bewerbungsgespräche persönlich. „Warum geht man als junger Mann aus Wuppertal nach Berlin?“, fragt er. Gabriel steht unter Strom. Es geht um seine Zukunft. Es ist einer dieser Momente, in denen er sich plötzlich voll und ganz öffnen kann. Er sagt etwas, dass nicht einmal enge Familienmitglieder wissen: „Ich bin schwul.“ „Und als schwuler Schwarzer war Wuppertal nicht das Ideale.“
Dann erzählt er seine Geschichte.
Und er zeigt seine Filme.
Der Chef ist mehr als beeindruckt. Ein paar Tage später bekommt Gabriel einen Anruf: Ob es sich vorstellen kann, ohne Ausbildung bei Jung und Matt anzufangen. Direkt als Regisseur innerhalb der Agentur? Eine neue Position, die nur für ihn geschaffen wurde. Was für eine Frage? Was für ein Triumph!
25 Jahre ist er Gabriel jetzt alt. Er könnte kaum erfolgreicher sein: Er http://www.aul-bergmark.de/verantwortet Produktionen im sechsstelligen Eurobereich und dreht Werbespots, die im Fernsehen vor einem Millionenpublikum hoch und runter laufen. Ein internationaler Star will sich einmal sogar persönlich dafür stark machen, dass sein Werbefilm noch häufiger läuft.
Dass er es geschafft hat, will Gabriel trotz dieser Erfolge noch nicht so richtig glauben. Zum einen weiß er, wie gnadenlos der Konkurrenzdruck in der Werbewirtschaft ist. Vor allem aber kennt er die Vergänglichkeit von Dingen, die sicher erscheinen. Die Richtung seines nächsten Tickets, will Gabriel Valrey Bihina jedenfalls selbst bestimmen.