Berihu
Das bin ICH
Portrait Berihu
Wer wissen will, was in Eritrea passiert, sagt Berihu, muss seine Gefängnisse kennen. „Under“ heißen einige von ihnen. Man nennt sie so, weil sie sich unter der Erde befinden. „Under“, dieses Wort hat in Eritrea einen Klang voller Härte und Bedrohung. „Under“, das ist der Platz, an den man gelangt, wenn man nicht so funktioniert, wie das System es will. Es ist ein Ort, den es offiziell nicht geben soll. Dennoch hat jeder Angst vor ihm. „Under“: Zwei Jahre seines Lebens hat Berihu dort verbracht.
Gefängnis ist ein beschönigendes Wort für das „Under“, sagt Berihu. Eigentlich ist es nicht mehr als ein Betonbunker, mehrere Meter unter der Erde gelegen. Ohne Fenster. Ohne Liegen. Ohne Toiletten. Über zweihundert Menschen zusammengepfercht in einem viel zu kleinen, niedrigen Raum. Nur die Wärter entscheiden, wer die Sonne sehen darf. Zweimal am Tag lassen sie ihre Gefangenen nach oben: Zum Verrichten der Notdurft und für ein karges Mahl. Eine Brotkrume drücken die Aufpasser ihren Untergebenen dann in die Hand. Manchmal eine wässrige Suppe. Ein winziges Zeichen, noch am Leben zu sein.
Egal wie müde man ist, man darf im „Under“ nicht alleine schlafen. Niemals, sagt Berihu. Immer muss ein Mitgefangener daneben stehen, der frische Luft zufächert und aufpasst, dass man nicht in Ohnmacht fällt. Sowieso muss man in Schichten schlafen: Für alle wäre auf dem Boden gleichzeitig gar kein Platz. Die Luft ist furchtbar schlecht. Alles ist so stickig, dass der Atem der Gefangenen den Kalk von der Decke löst. Es tropft unaufhörlich. Nach ein paar Stunden spürt man ein nicht enden wollendes Jucken auf der Haut.
Nur die Gemeinschaft schützt vor dem Wahnsinnigwerden. Die Bildung der Eingesperrten ist beachtlich, sagt Berihu. Es gibt viele Ärzte, Lehrer und Ingenieure hier unten: Menschen, vor denen das Regime Angst hat. In kleinen Geschichten erzählen sie ihren Schicksalsgenossen von ihrem Wissen: Vom Zeichnen von Bauplänen, von der Behandlung von Rückenschmerzen, von den historischen Folgen des Zweiten Weltkriegs. Irgendwann, diese Hoffnung hat man ihnen noch nicht austreiben können, wird dieses Wissen noch einmal etwas wert sein.
Eigentlich wollte Berihu kein politischer Mensch werden. Seine Ziele waren bodenständig: Eine Ausbildung. Eine gesicherte Existenz. Doch in Eritrea zählte sein freier Wille wenig. Der Mensch, sagt Berihu, ist dort nicht mehr als ein Werkzeug des Staates. Und als solcher muss er seinem Land dienlich sein: Jeder hat in Eritrea den sogenannten „National Service“ zu absolvieren. Ein zeitlich unbegrenzter Einsatz für den Staat, zu dem jeder Erwachsene bis ins hohe Alter eingezogen werden kann. Der „National Service“ verpflichtet nicht nur, im Militär zu dienen, sondern auch genau dort zu arbeiten, wo es der Staat befiehlt: als Erntehelfer in der Landwirtschaft zum Beispiel, oder als Hilfskraft auf dem Bau. Man kann Jahrzehnte im „National Service“ verbleiben, ohne sich dagegen wehren zu können. Es ist nichts anderes als Zwangsarbeit. Ein aktueller UN-Report spricht sogar von Sklaverei.
Die Glücklicheren können im „National Service“ ihre Schulausbildung beenden. Berihu trifft es weniger gut: Er absolviert gerade die siebte Klasse, als sie ihn mitnehmen. Von einem auf den anderen Tag muss er Soldat sein. Sein Schulabschluss: Kein Thema mehr. Sieben Jahre im „National Service“ stehen ihm bevor. Jahre, in denen er immer wieder versucht, sich gegen die Willkür, die er täglich erfährt, zu wehren. Doch er hat keine Chance. Entweder man fügt sich der Ordnung, sagt Berihu, oder man wird bestraft; wird ins Gefängnis gesperrt, manchmal auch geschlagen. Bis heute ist Berihus Körper von Narben bedeckt.
So kommt Berihu auch nach Sawa, der Militärbasis, auf der jeder junge Mann in Eritrea seine Militärausbildung absolvieren muss. Sawa liegt im äußersten Westen von Eritrea, keine 30 Kilometer von der Grenze zum Sudan entfernt. Ein Ausweg? Berihu ist jetzt bereits seit über fünf Jahren im „National Service“. Die Zeit war so schlimm, dass er bereit ist, alles hinter sich zu lassen. Zu Fuß macht er sich auf den Weg. Irgendwo hinter der Grenze, denkt er, muss es ein besseres, ein würdigeres Leben geben.
Es geht nicht gut. Das Grenzgebiet ist voller Soldaten. Deserteure werden schnell geschnappt und hart bestraft. Berihu kommt nicht einmal in die Nähe der Grenze. Er kann jetzt nur noch froh sein, wenn er das „Under“, in das sie ihn bald bringen werden, irgendwie überlebt. Dicht an dicht mit anderen Gefangenen zusammengekauert, erwartet er sein Schicksal. Neben dem berüchtigten Untergrund-Gefängnis lernt er so auch Zellen kennen, die aus nichts anderem als ausrangierten Schiffscontainern bestehen, in die man ihn mit zahlreichen anderen bei brütender Hitze zusammenpfercht.
Doch das autoritäre Regime kann auch gnädig sein. Gnädig, dem gegenüber, den man vorher gebrochen hat, sagt Berihu. So passiert irgendwann etwas Ungewöhnliches: Berihu ist aufs schlimmste Art und Weise misshandelt worden als er nach 25 Monaten plötzlich das Gefängnis verlassen darf. Auf einmal pflegt man seine Wunden in einem Militärkrankenhaus. Obwohl er immer noch bewacht wird, scheint er plötzlich wieder eine Lebensperspektive zu haben.
Im Krankenhaus lernt Berihu einen Arzt kennen, der ihn beeindruckt. ______________
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An dieser Stelle mussten wir den Text kürzen, um Fluchthelfende und die Familie nicht in Gefahr zu bringen.____________________________________________________
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______________________________________________________________________ Diesmal will er besser vorbereitet sein. Obwohl er keine Erlaubnis hat, seine Familie zu besuchen, macht er sich auf den Weg. Er ist immer noch schwer von seinen Misshandlungen gezeichnet. Nur mit Krücken kann er sich vorwärts bewegen. Zahlreiche Checkpoints muss er passieren. Man winkt ihn gelangweilt durch. Aus Sicht der Soldaten ist er jetzt nur noch ein Krüppel. Ein Werkzeug, das aufgehört hat, nützlich zu sein. Wer sollte sich jetzt noch für ihn interessieren?
Berihu erzählt niemandem von seiner Flucht. Nicht einmal seinen Eltern, die er in seinem Dorf nach langer Zeit wiedersieht. Früh morgens schleicht er sich aus der heimatlichen Hütte. Seine Krücken hat er durch weniger laute Holzstäbe ersetzt. Er weiß: In den Bergen entlang der Grenze lauern Scharfschützen. Ein falscher Laut und er kann im nächsten Moment tot sein. Drei Stunden sind es eigentlich zur Fuß bis zur Grenze. Berihu braucht zwei Tage. Doch dann hat er es geschafft: Mit letzter Kraft durchwatet er den Grenzfluss. Kurz darauf blickt er in die Gewehrläufer zweier äthiopischer Soldaten. Es ist seine Rettung: Äthiopien liefert keine Flüchtlinge an seine einstige Provinz, den jetzigen Todfeind Eritrea aus.
Doch auch Äthiopien ist kein Paradies, sagt Berihu. In einem Lager mit 40.000 anderen Flüchtlingen ist er erneut ohne politische Rechte. Der Lagerkommandant verweigert ihm die dringend notwendige medizinische Behandlung in der Hauptstadt. Hört diese Willkür etwa niemals auf? Da reift sein finaler Entschluss: Gerade einmal zwei Grenzen trennen Äthiopien von der südlichen Mittelmeerküste. Und auf der anderen Seite des Mittelmeers wartet die Hoffnung auf eine bessere Welt. Berihu fasst ein neues Ziel ins Auge.
Er hat mit seinem Leben abgeschlossen, als er nach Norden aufbricht. Er weiß, dass die Chance, auf der Reise zu sterben, genauso hoch ist wie die Aussicht, lebend nach Europa zu gelangen. Jeder Grenzübertritt, sagt er, kostet einen vierstelligen Dollarbetrag. Auf verschlungenen Kanälen finanziert ihn sein Bruder, der bereits 2009 in den Südsudan geflüchtet ist. Für Außenstehende ist es ein undurchschaubares System: Über Mittelsmänner ist es möglich, sich auch noch in die entlegensten Orte Geld von Verwandten schicken zu lassen. Auf der anderen Seite darf man niemanden seine Reiseroute verraten, um nicht überfallen und ausgeraubt zu werden. Es ist ein irrwitziges Spiel zwischen grenzenloser Solidarität und abgrundtiefem Verrat.
Mit 140 Menschen überquert Berihu den Grenzfluss in den Sudan. Wenige 100 Meter von der Grenze nach Eritrea entfernt ist dafür die günstigste Stelle, sagt Berihu. Doch hier, im toten Winkel der Systeme, haben die Flüchtlinge nicht nur Angst vor den Krokodilen im Wasser. Sie fürchten auch aufgegriffen zu werden und im Handumdrehen nach Eritrea deportiert zu werden: Für viele ein Todesurteil. Diesmal geht alles gut. Weiter auf Sandpisten, mitten durch die Sahara. Die Fahrer der Geländewagen stehen unter Drogen. Wracks zeugen von zahlreichen Verkehrsunfällen. Offiziell ist die lybisch-sudanesische Grenze längst geschlossen. Aber wen interessiert das hier, im Niemandsland zwischen den Bürgerkriegen? Alles was zählt, ist die Summe, die der Schlepper für seine Dienste bekommt. Ganze Existenzen werden in eine einzige Fluchthilfe investiert.
Und dann tatsächlich: Das Mittelmeer. Inzwischen ist Berihu so erschöpft, sagt er, dass ihm ein Fluchthelfer eine Infusion spritzen muss, damit er den Kahn über das Meer überhaupt besteigen kann. Fast 600 Menschen sind auf dem alten Fischerbot zusammengekauert. Berihu liegt im Schiffsrumpf und nimmt seine Umgebung nur noch schemenhaft war. Doch die Gruppe hat großes Glück: Nach 12 Stunden entdeckt sie die italienische Marine. Ein paar Stunden später sind sie tatsächlich in Sizilien. Europa! Sie haben es geschafft.
Keine Angst mehr vor marodierenden Banden, unverschämt leise Autos, ein Krankenhaus, so sauber und modern, wie es Berihu noch nie gesehen hat: Zwei Wochen liegt er völlig kraftlos im Bett. Erst jetzt merkt er, welche Strapazen hinter ihm liegen.
Kurze Zeit später wagt er eine letzte Flucht. Nach Deutschland. Dort teilt ihm das Bundesamt für Migration eine Stadt zu: Wuppertal.
Afrika scheint jetzt weit weg. Eritrea schafft es hier höchstens am Rande in die Nachrichten: Nicht nur Opfer sondern auch zahlreiche Günstlinge der Eritrea-Diktatur genießen in Europa Asyl, deckt eine Schweizer Zeitung auf. Ausgerechnet die Deutsche Entwicklungshilfeorganisation GIZ soll helfen, jene Grenze zwischen Eritrea und dem Sudan zu sichern, die Berihu zwei Jahre seine Lebens kostete, Stichwort: Fluchtursachen bekämpfen, meldet die Tagesschau. Der Sieger des New-York Marathons kommt in diesem Jahr aus Eritrea, zeigt der Sportkanal. Berihu nimmt all das nur flüchtig wahr. Er muss sein Leben erst einmal grundsätzlich neu sortieren. Er beginnt zu malen. Bilder sind für ihn eine Möglichkeit, seine Vergangenheit zu verarbeiten.
Es ist ihm sehr wichtig, seine Geschichte zu erzählen. Er will dafür kämpfen, dass die Weltöffentlichkeit von dem Unrecht in seinem Heimatland erfährt. Für viele seiner Landesgenossen ist Berihu deshalb ein Lügner und Vaterlandsverräter. Genau für jene Menschen, die bis weit nach Europa herein von der Regierung Eritreas begünstigt werden, sagt Berihu. Eindeutig beweisen lässt sich der Wahrheitsgehalt von Berihus Erzählungen tatsächlich nur schwer: Eritrea liegt im weltweiten Ranking der Pressefreiheit auf dem letzten Platz. Hinter Nordkorea. Doch Berihu lebt von der Hoffnung, dass die Menschen sich irgendwann einmal daran erinnern werden, wer sich mutig der Diktatur in seiner Heimat entgegenstellte. Und wer von ihr profitierte.